Pressestimmen

Endlich wieder Musik

Ein wunderbar nachwirkendes Konzert in Präsenz war in der Stadthalle zu hören.

„Es fühlt sich traumhaft an, ich hab eine Gänsehaut“: Strahlend begrüßte Musikschulleiterin Ulrike Goldau die Gäste in der Stadthalle zum Sonatenabend. Diese mögen auch so empfunden haben, als zunächst Werke von Ludwig van Beethoven und Johannes Brahms, nach der Pause dann von César Franck erklangen. Noch liegt stille Erwartung über den mit reichlich Abstand bis in die letzte Ecke besetzten Reihen, noch ahnt man nicht, welch ein Klangerlebnis vor einem liegt. Dieses verheißt ja schon die Bezeichnung Sonate: „Klingstück“, das Klingen von Instrumenten. Dann das Aufatmen – endlich, nach 20-monatiger Abstinenz, wieder Konzertgenuss! Es vereinte sich mit den ersten Klängen, hervorgezaubert von zwei Pädagogen der Musikschule.

Woran liegt es, dass der Abend als ein besonderes, beglückendes Ereignis in Erinnerung bleiben und den Appetit auf mehr erzeugen wird? Zum Einstieg erklingt mit Beethovens Sonate opus 12 Nr. 1 ein in fünf Sätzen eher lebhaftes, fast spielerisches Werk das, hier und da noch vorsichtig tastend, heitere Stimmung verbreitet. Harald Streicher (Piano), seit 30 Jahren, Hrayr Atshemyan (Violine), seit vier Jahren Lehrer an der Musikschule, schaffen schon jetzt Grundlage und Verheißung für den folgenden, sich zum Ende hin als vollkommen erweisenden Genuss: Sie sind Künstler, die in fünf Sätzen ein Klingen und Tönen in Gang setzen, das weit über das Hier und Jetzt hinausreicht. Das Wesen der Musik der Romantik, Ausdruck des Gefühls zu sein, klingt an, die Sonatensätze werden zu Kapiteln, aus denen ein Roman entsteht.

Brahms’ Sonate in G-Dur opus 78, tief von innen her tönend, fordert innige Einfühlung, von den Musikern wie von den Zuhörern. Zwei lebhafte Sätze rahmen hier ein langsames, mal sinnendes, mal nachdenkliches Adagio ein. Es ist, als flössen Gedanken und Fühlen ineinander, strebten auseinander. Man ist hingerissen vom harmonischen Zusammenspiel der beiden Musiker. Harald Streicher, mehr im Hintergrund und damit im Halbdunkel platziert, macht erfahrbar, welch wunderbarer „Sound“ einem gerade frisch überholten Steinway entlockt werden kann. Fasziniert folgt man dem Bogen, wenn Hrayr Atshemyan ihn über seine Geige gleiten oder herb streichen lässt – man sieht den Klang! Man staunt über die überwältigende Fülle und Feinheit der Interpretation. Sternemenü statt gewohnter Kost – vielleicht unbewusst hielten sich die Musiker mit ihrem Programm an die Regeln der Haute Cuisine: Den schönsten Leckerbissen gibt es nach der Pause. César Francks Sonate für Violine und Klavier in A-Dur ist das Werk eines Organisten, der durch seine Tätigkeit an verschiedenen Pariser Kirchen und Kompositionen für Orgel berühmt wurde. Der polyphone Stil, der sich schon in der Klassik als Vielstimmigkeit ausgebildet hatte, zeichnet auch seine Sonate aus. Man hat das Gefühl, die beiden Musiker werden fast unsichtbar hinter den Klängen, die sie meisterhaft entfalten – sie schaffen einen Klangraum, der nirgendwo endet. Die Musik erfüllt den Augenblick und dehnt ihn ins Zeitlose. Das hat etwas Sakrales, man vereint sich zu einem musikalischen Erleben, das in die geistige Dimension strahlt. Man lauscht, gefesselt von der Spannung, die sich aufbaut und immer wieder mit neuen Aspekten überrascht, und vergisst die Welt, vergisst den Verdruss, den Corona bereitet hat, vielleicht auch die stillose Pause ohne Sekt und in der Schlange vor zur Hälfte verschlossenen Toiletten.

Die Musik von Beethoven und Brahms kennt man, sie ist vertraut, doch die Musik Francks ist neu für so manches Ohr, sie ist ungewohnt, sie wühlt auf – und ist das nicht wunderbar passend für einen Neuanfang, den die Musikschule mithilfe sehr vieler ehrenamtlicher Helfer unter dem Druck strengster Corona-Auflagen an diesem wunderbaren Konzertabend verwirklicht hat? „Es ist die größte Veranstaltung in Herrenberg seit Corona“, berichtet Ulrike Goldau stolz. Stolz darf sie auch auf „ihre“ Musikpädagogen sein: Sie sind im In- und Ausland tätig, Hrayr Atshemyan ist seit vorigem Jahr Dozent an der Musikhochschule in Frankfurt, Harald Streicher gibt regelmäßig Solokonzerte und widmete sich vor einiger Zeit der Aufführung aller 32 Beethoven-Klaviersonaten. Das eher „kuschelige“ Musikschulstudio wäre für so ein großartiges Konzert entschieden zu klein gewesen. Die Frage „was ziehe ich an“ erhielt durch Corona ganz neue Bedeutung: „Man hat ja keine schönen Kleider mehr gebraucht“, klagt jemand. Gut, dass sich in jedem Kleiderschrank etwas fand. Das „Bravo“ wollte nicht enden, die Musiker ließen sich als kleine Krönung zu mehreren Zugaben verführen.

Gäubote 12. Oktober 2021
Gabriele Pfaus-Schiller

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